“Du hast dein Boot an der Müritz?” Diese Frage, beinahe schon ein Vorwurf, kenne ich gut aus meinem Berliner Bekanntenkreis, teilweise ebenfalls Bootseigner mit Liegeplätzen an einem innerstädtischen See. Natürlich ist es angenehm, in 20 Minuten von zuhause zum Boot zu kommen und gerne fahre ich mit wenn ein Kumpel anruft, und mitteilt, es geht gleich los. Für Freiberufler mit der Möglichkeit innerhalb der Woche an schönen Tagen den Schreibtisch zu verlassen, um auf der Havel zu schippern, ist die Gelegenheit für spontane Bootsfahrten bei bestem Wetter etwas Wunderbares.
Dennoch schätze ich meinen Liegeplatz in einem traditionellen Bootshaus in der Binnenmüritz. Das Autofahren macht mir (meistens) nichts aus und erst einmal angekommen, befinde ich mich in einer landschaftlich äußerst reizvollen Region mit einem Binnenrevier, das durch den größten deutschen Binnensee, die Müritz, mit zahlreichen Abzweigungen in andere Gewässer eine Atmosphäre bietet, die auf der Havel zwischen Berlin und Potsdam nicht zu finden ist. Natur pur, sage ich dazu. Ein paar Berliner Freunde, die sich selten mehr als 10 Kilometer vom Brandenburger Tor entfernen und mehrwöchige Bedenkzeiten benötigen, wenn man sie fragt, ob sie für einen Tag zur Müritz mitkommen wollen, ahnen nicht, was sie verpassen. Die langen Bedenkzeiten dienen vor allem der Suche nach einer plausiblen Ausrede, um absagen zu können und der Hoffnung, dass ich meine Einladung vergesse.
Auf der Müritz sehe ich den Seeadler, der Fische aus dem Wasser greift und gewaltige Schwärme von Blesshühnern sowie das alltägliche Drama des natürlichen Miteinanders der verschiedenen Arten, seien es Fische, Vögel oder Wild. Sie lassen sich von mir und meinem Segelboot nicht stören.
Es heißt ‘Calmar’ und ist eine hölzerne 15er Jolle aus Holz mit dem entsprechenden Pflegeaufwand, den so ein altes Schätzchen bedarf. Auch das ist ein Thema mit meinem Berliner Freunden. Die machen es sich leicht: “Kauf dir ein Boot aus GFK, dann hast du den ganzen Stress nicht.” Doch macht es mir Freude, mich den handwerklichen Herausforderungen eines alten Holzbootes zu stellen. Wenn um meinen Schwertkasten etwas Wasser ins Boot sickert, ist dies ein willkommener Anlass, Bootswerkstätten an der Müritz zu besuchen und mit den dortigen Bootsbaueren interessante Fachgespräche zu führen, die leider und gleichzeitig auch zu meinem Glück zusätzliche Begehrlichkeiten hinsichtlich der regelmäßigen Renovierungen am Boot erzeugen. Es interessiert mich sehr zu sehen, wie ein guter Bootsbauer die Planken eines Holzbootes gekonnt auf die Holzspanten aufbringt und einen Rumpf entstehen lässt, der bei guter Pflege viele Jahrzehnte lang die Basis für ein schönes Schiff bildet. Haben Sie schon mal ein auf Klavierlackglanz gebrachtes Bootsdeck aus Holz gesehen? Das ist etwas anderes, als ein Kunststoffboot mit einer relativ anspruchslosen Oberfläche und dem Charme eines Joghurtbechers.
Mein treuer Calmar ist in einem Bootshaus untergebracht, das auf Pfählen in der Binnenmüritz steht. Ja, auch ein solcher Liegeplatz hat seinen Reiz. Er steht nicht jedem zur Verfügung, denn es gibt nur wenige davon, und ich bin froh, einen zu haben trotz der Mühen, die damit verbunden sind. Nehmen wir mal den Winter. Es friert und auf dem See bildet sich eine Eisschicht. Sie liegt nicht ruhig auf dem Wasser, sondern bewegt sich und übt eine starke mechanische Belastung auf die Pfähle des Bootshauses aus. Besonders in der Zeit der Schmelze, wenn sich Risse in der Eisdecke bilden und sie durch Wind und Strömung in diese oder jene Richtung drängt, kann sie den Pfählen Schäden zufügen. Deswegen kommt es vor, dass die Liegeplatzinhaber eines Bootshauses mit Äxten und Sägen Brüche in der Eisdecke erzeugen, an denen sich die ‘tektonische’ Energie der sich aneinander bewegenden Eisschollen verbraucht. Ist der See mit einer tragfähigen Eisdecke zugefroren, gelangen Spaziergänger zu den Bootshäusern. Nicht alle laufen daran vorbei, einige möchten auch mal sehen was sich darin befindet oder haben kriminelle Absichten. Deswegen befestigen wir metallene Absperrgitter, wie man sie von Bauzäunen kennt, unterhalb der Türen, die etwas über der Wasseroberfläche enden. Sie frieren im Winter fest und verhindern den Eintritt von ungebetenen Besuchern, zu denen nicht nur Menschen gehören, sondern auch wilde Tiere, die auf die Idee kommen, eines unserer Boote als gemütlichen Unterschlupf für den Winter zu missbrauchen oder nach Brauchbarem zu durchwühlen.
Dass ein Bootshaus nicht nur eine schnöde Garage ist, davon zeugen Dramen und die gute Nachbarschaft, an denen die dort beheimateten Liegeplatzbesitzer regen Anteil nehmen.
Wenn ich auf meinem Calmar bei gutem Wind über die Müritz Seele, sind alle Bedenken hinsichtlich der Anstrengungen und des Aufwands wie weggeblasen. Das Boot pflügt durch die Wellen, die ganz andere Dimensionen haben als auf den Berliner Seen. Die deutsche Fahne hinter mir flattert lustig.