Ostern. 2013. Berlin. Wir fahren nach Friedrichshain zur East-Side-Gallery, einer langen von Künstlern bemalten Mauer, die einst ein Teil der Grenze zwischen Ost-und Westberlin war. Jeder Quadratzentimeter dieses Bauwerks aus den Zeiten des kalten Krieges wurde inzwischen mehrmals bemalt. Auf der Seite hin zur Mühlenstraße taten dies Künstler mit großflächigen Gemälden und auf der Rückseite tobten sich vor allem Graffity-Sprayer aus. Vom Frühling ist nichts zu sehen. Trotz der Schneereste sind in Berlin reichlich Touristen unterwegs, um die hiesigen Sehenswürdigkeiten betrachten. Die jüngsten Schlagzeilen haben die Aufmerksamkeit der Schaulustigen auf diesen Ort gelenkt.
Erwartungsgemäß drängen sie sich auf dem schmalen Bürgersteig zwischen der dicht befahrenen Mühlenstraße und der Mauer. Ihr Osterspaziergang hat sie hierher geführt. Meter für Meter stehen die Menschen mit ihren Smartphones und Kameras. Jedes Bild auf der Mauer wird im Sekundentakt fotografiert. Entweder lehnen sich Freunde dagegen, die von ihren Gefährten abgelichtet werden oder andere Fotografen hoffen auf die eine Sekunde, in der sich niemand vor einem bestimmten Bild befindet. Am heutigen Tag ist das ein rarer Glücksfall.
Viele der Gemälde sind sehenswert, aber längst nicht alle. Zwischen der Mauer und der Spree verläuft an zwei Stellen ein längerer Grünstreifen, der von einer Baustelle mit Grube und darin stehenden Baufahrzeugen unterbrochen wird. In der Umgebung sind in den vergangenen Jahren auf der friedrichshainer Seite der Spree zahlreiche moderne Gebäude im kühlen und sachlichen Stil entstanden. Mittendrin steht die O2-Arena, vor der sich heute junge Leute drängen, die zum Konzert von Justin Bieber wollen. Gelegentlich gellt das Kreischen der jungen Mädchen herüber.
Wer einen gemütlichen Altbaukiez mag, in dem jede Mietskaserne die andere zu stützen scheint, wird sich hier verloren fühlen. Die neuen Bauwerke strahlen wenig Wärme aus Sie sind Einzelstücke und sollen auch so wirken. Kein Wunder, dass die konservative Nachbarschaft sich bedrängt fühlt von einem neuen kalten Stil, der von angesagten Architekten und internationalen Investoren diktiert wird.
Die East-Side-Gallery erscheint wie ein Bollwerk gegen solche Auswüchse, die an das Ufer der Spree drängen. ‘Fuck Mediaspree’ steht an einem der alten Gemäuer auf der Kreuzberger Seite der Spree. Die East-Side-Gallery ist ein Symbol für diese Haltung. Aber schauen wir mal genauer hin. Auf einem langen Stück entlang der Kulturmauer gibt es eine Grünfläche, auf der japanische Kirschbäume stehen, gespendet von Japanern. Es ist nicht zu erwarten, dass dieser Bereich zur Baufläche wird. Was spricht dagegen, durch die lange Mauer Durchbrüche hinzunehmen, wenn die geräumten Segmente einfach nur anders aufgestellt werden? Es wäre schön, die besten Bilder im Sonnenlicht zu sehen und nicht im Gegenlicht, wie jetzt. Dazu müsste die Mauer umgedreht oder ganz anders werden. Möglich wäre dies in mehreren parallelen Reihen auf einer Grünfläche, einem East-Side-Gallery Park, der die Werke besser präsentiert und nicht im Konflikt steht mit der Stadtentwicklung. Beispiele sind bereits vorhanden. Es gibt verschobene Mauerstücke, die beispielhaft zeigen, welche Alternative möglich ist. Sie so zu nutzen, dass die Werke besser zur Geltung kommen, ist eine Chance, die nicht mit bockigem Getue vertan werden sollte.
Dass der künstlerische Aspekt nicht auf die Mauerstücke der ehemaligen Grenzbefestigung reduziert ist, zeigt sich beim Yaam, einem gastronomischen Freizeitgelände im Trash-Look. Wände aller Art wurden hier gekonnt bemalt.
Schauen wir mal zurück und konstruieren daraus die Zukunft. Die Künstler, die 1990 die East-Side-Gallery gründeten, konnten seinerzeit nicht ernsthaft glauben, dass sie 23 Jahre später noch immer dort stehen würde. Diese Künstler werden größtenteils noch voller Saft und Kraft sein, aber gewiss nicht mehr in 20 Jahren. Was soll bis dahin aus der langen Betonleinwand werden? Wie sieht die East-Side-Gallery im Jahre 2033 aus? Wer von den einstigen Initiatoren ernsthaft und konstruktiv an einer realistischen Bewahrung der Bilder auf den Mauerstücken denkt, muss bald handeln und einen Kompromiss anstreben, der höchst wahrscheinlich eine bedeutend bessere Präsentation der Bilder zufolge hat, nämlich in Form eines Parks, in dem kürzere Mauerstreifen parallel nebeneinander mit Grünflächen dazwischen aufgestellt sind und in einer angenehmeren Atmosphäre besichtigt werden können als auf dem engen Gehweg neben der vielbefahrenen Mühlenstraße.
Die Künstler sollten darauf pochen, dass der Senat die entsprechende Mittel zur Verfügung stellt, nicht nur zur Umgestaltung des Parks, sondern auch für konservatorische Maßnahmen, die dazu beitragen, dass die Mauersegmente und die ursprünglich darauf zu sehenden Bilder dauerhaft erhalten bleiben. Die Stadtentwicklung und finanzstarke Investoren werden sich auf Dauer nicht von einer Mauer aus einer alten Grenzbefestigung aufhalten lassen. Ein Hand-in-Hand-Arbeiten mit dem Kapital wäre in diesem Falle sinnvoll, um die oben genannte Idee in bestmöglicher Form umzusetzen und ein touristisches Highlight zu schaffen, das der modernen Stadtentwicklung nicht im Wege steht, sondern in Form einer offenen Mauer an die Tage der Maueröffnung erinnert und nicht an die Zeiten davor.
Aktuelle Fotos: East-Side-Gallery – 31. 3. 2013